Die «Wickiana» (1560-1588)

Ausser den prächtigen illustrierten Werken der Verleger in Basel, Genf oder Zürich, die anfänglich nichts Volkstümliches haben, und den zwei Almanachen, die einen Teil ihrer Druckstöcke aus dem Ausland übernehmen, hat die Schweiz keinen originellen Beitrag zur Geschichte der populären Druckgrafik geleistet. Sie hängt im grossen und ganzen von deutschen (Breslau, Nürnberg, Augsburg) oder französischen Produzenten (Paris, Reims, Orléans, Nancy, Epinal) ab und bliebe unerwähnt ohne einen Mann, der weder Herausgeber noch Holzschneider ist, sondern Theologe und Sammler und der mit seinem Flair und seiner Neugier «ein unentbehrliches Stück des 16. Jahrhunderts» davor bewahrt hat, in Vergessenheit zu geraten, was für die Kenntnis des betreffenden Jahrhunderts von unschätzbarem Wert ist. 7

Johann Jakob Wick (1522-1588) wächst im strengen Zürich Bullingers auf, des Humanisten, Reformators und Nachfolgers von Zwingli. Er studiert in Tübingen und wird Pfarrer in Witikon (Zürich), dann im Stadtspital und schliesslich im Grossmünster von Zürich. Er ist eine angesehene und geachtete Persönlichkeit und steht dank seinem Meister und Beschützer Bullinger in Beziehung zu ganz Europa. Er ist auch der grösste Sammler von Merkwürdigkeiten seiner Zeit und Vorgänger der «Kuriositätenkabinette», aus denen später die Ethnografie hervorgeht.

Dieser Gelehrte interessiert uns, weil er sich für alles interessiert: Er kopiert nicht nur zu Hunderten Berichte über seltsame Vorkommnisse, die er in seinen Notizbüchern festhält, er kauft und sammelt auch mit grösster Sorgfalt jene «Einblattdrucke», die aufzubewahren sich niemand bemüht. Zwischen 1560 und seinem Todesjahr 1588 erwirbt er mehr als fünfhundert Schriften und vierhundert oft kolorierte, volkstümliche Holzschnitte, die von einer ausserordentlich lebendigen und aktiven Produktion zeugen. Wir werden uns auf die Bilder beschränken, die eine dunkle und ergreifende Chronik des zu Ende gehenden 16. Jahrhunderts bilden. Eine Sammlung, die für diese Epoche um so aufschlussreicher ist, als Wick sie auf ganz unsystematische Weise anlegt und alles aufbewahrt, was ihm von irgendwelchem Interesse scheint. Mit einem unbestreitbaren Hang zum Makabren und Scheusslichen.

Aber man muss zugeben, dass das Jahrhundert nicht daran geizt: Blutregen über dem Thurgau, der die Bartholomäusnacht ankündigt, von den Türken erstochene Kinder, von Walfischen versenkte Galeeren, mit Mord endende Kartenspielpartien, Monster, Scheiterhaufen, Hinrichtungen und eine grosse Anzahl ungewöhnlicher Himmelserscheinungen, die er als göttliche Mahnungen ansieht. Kein einziges erotisches Bild in diesem Museum des Eigenartigen und Entsetzlichen. Die calvinistische oder zwinglianische Reformation versteht keinen Spass punkto Fleischeslüste. Ausserhalb dieses totalen Tabus sind alle Kuriositäten erlaubt. Es herrscht vollkommene geistige Aufgeschlossenheit ohne Vorurteile.

Wick kümmert sich auf jeden Fall nicht darum, gelehrte Dokumente von volkstümlichen zu unterscheiden. Ganz Zürich kennt seine Marotte und ermutigt ihn. Unbekannte halten ihn auf der Strasse an und erzählen ihm Übernatürliches und Wunderbares, das sie gesehen oder erlebt haben. Ob der Berichterstatter Kanonikus oder Hirt ist, ist unwichtig. Wick schreibt alles auf. Man kommt auch zu ihm, manchmal von weit her, um Einsicht zu nehmen in seine Hefte und Bilder, die er als Verfechter der Reformation interpretiert und kommentiert, aber seine Überzeugung kommt seinem Sammeleifer nicht in die Quere. Wick hält seinen Glaubensgenossen einen schrecklichen Zeitspiegel vor, damit sie sich bessern und die Gnade des Himmels verdienen. Gleichzeitig rettet er ein unschätzbares ikonografisches Erbe und er ist der erste in Europa, der dessen Wichtigkeit für die Geschichte der Bräuche und Denkweise erahnt, auch wenn diese Begriffe noch nicht in Gebrauch waren.

Wick ist in dieser Hinsicht ein Vorgänger und Pionier der Volkskunst. Sein Zeitgenosse Pierre de l’Estoile, der in Paris satirische Bilder gegen die katholische Liga sammelt und in einen Band klebt, der im grafischen Kabinett der Nationalbibliothek aufbewahrt wird, sammelt sie um der konfessionellen Polemik willen; Wick stellt ein compendium mundi zusammen. Von den vierhundert Einblattdrucken, die man seinem Sammeleifer verdankt, wurden die meisten in Deutschland geschnitten und gedruckt; einige beziehen sich auf Ereignisse in der Schweiz, einige wurden in Zürich, Solothurn, Basel ausgeführt. Etwa die Hälfte davon sind die einzigen auf der Welt bekannten Exemplare einer früher reichen und faszinierenden volkstümlichen Ausdrucksweise.

Nicolas Bouvier
Ars Helvetica IX
Die visuelle Kultur der Schweiz
Volkskunst
Pro Helvetia / Desertina Verlag

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