Automatismus

Im engeren Sinne der Schaffensvorgang bei surrealistisch orientierten Künstlern, deren Werke nicht auf berechnende Planung zurückgehen, sondern Niederschlag eines tranceähnlichen Zustands des Künstlers sind (psychischer Automatismus, absoluter Surrealismus). Wichtiges Gestaltungselement der Künstler des Automatismus (André Masson, Joan Miró, Willi Baumeister u. a.) ist das ungegenständliche Bildzeichen.

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Der beflügelte Automatismus

«Geheimnisse der surrealistischen Zauberkunst. Schriftliche surrealistische Komposition, oder erster und letzter Entwurf: ziehen Sie sich an einen Ort zurück, der für die Konzentration Ihres Geistes so günstig wie möglich ist, und lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen. Werden Sie möglichst passiv und empfänglich. Sehen Sie ab von Ihrem Genie, Ihrem Talent und dem Talent der anderen.» So zeigt André Breton in dem Manifeste von 1924, wie man bei der automatischen Schreibweise die Inspiration lenken – oder genauer gesagt, nicht lenken soll. In diesem Auszug, der vor allem das Schreiben betrifft, sich aber auch aufs Zeichnen beziehen könnte, sind das herrische Verhalten («Lassen Sie sich … bringen») und die Bedeutung des Orts, der für geistige Konzentration günstig ist, zu bemerken, zwei Privilegien, die wahrscheinlich eher religiöser oder «magischer» als bourgeoiser Art sind. Dann kommt eine Aufforderung, man solle sich bemühen, passiv und empfänglich zu sein, und dabei alle Rollen vergessen, die wir spielen mögen: denn sonst bleiben Literatur und Malerei nur albern. Man soll sein Herz enthüllen, zwar nicht, um sich vor lauter Selbstbetrachtung in dem eigenen Blick zu verirren, wie im Narcisse von Valéry, denn dies ist der verkehrte Weg der egozentrischen Eigenliebe. Der surrealistische Künstler soll sich selbst vergessen. Seine Aufmerksamkeit ist Erwartung. Er lauert auf die Worte oder Striche, die Objektivem entspringen werden. Sie sollen ohne Zwang, ohne sein Zutun kommen, denn sie sind zerbrechlich. Also soll nicht nur das Auge, sondern auch die Hand «ungezähmt sein».

«Auch die Hand des Malers (André Masson) wird beflügelt: sie zeichnet nicht mehr die Formen der Gegenstände ab, sondern ist ausschliesslich in die eigene Bewegung verliebt, bildet jene unwillkürlichen Formen, in denen – so lehrt die Erfahrung – diese Gegenstandsformen sich wiederverkörpern.» Dies ist nämlich die Hauptentdeckung des Surrealismus, fügt André Breton hinzu58: «Die Feder, die ohne vorgefasste Absicht schreibend -, oder der Bleistift, der zeichnend hingleitet, spinnt einen kostbaren Stoff; er eignet sich vielleicht nicht ganz zum Tausch, ist aber reich an Emotionalem, was der Dichter empfindet.»

André Masson wird in diesem Text gemeint, denn er ist der wirkliche Erfinder der surrealistischen «automatischen» Zeichnung. Schon um 1923-1924, als seine Malerei noch brav kubistisch ist, lösen sich seine Zeichnungen in «irrende Linien» auf, die hie und da ein Vogel- oder Brustprofil zeigen und hin und her schwingen. Dies erinnert an Wellen. Jede Linie wird so schnell gezeichnet, dass die glücklichen, fliessenden Formen das Zähflüssige kaum streifen.

Zweifellos zeichnet der Betrachter diese Zeichnungen im Geiste nach, als würde ihn der Maler an der Hand führen. Sie zielen überhaupt nicht darauf ab, uns ein Bild zu zeigen, auch nicht im surrealistischen Sinn des Worts. Sie lassen uns in der Welt der Phantasie umherschweben.

Die Schlaffheit der Linien kennzeichnet die Automatismus-Studien der «Rue Blomet-Gruppe».59 Dort bereitet sich Massons Nachbar Miró auf die oben erwähnte «Ermordung der Malerei» vor. Offenbar ist Miró, der in Barcelona, dann in Paris – wo er 1919 Picasso begegnete – der Dadabewegung nahestand, heftiger als Masson, dessen Werke voll Anmut und ohne jede Bissigkeit sind. Bei Masson finden wir nicht den geringsten Hohn, nicht die geringste Aggressivität gegenüber der Malerei (Miró aber beklagte ihre Dekadenz60):: Dies ermöglicht ihm, den Zustand der inneren Verfügbarkeit, eine Voraussetzung zur automatischen Malweise, unmittelbar zu erreichen. Das eigene Genie, das eigene Talent und das Talent der anderen vergisst Masson wahrscheinlich mehr als Miró. Wir können daher gut verstehen, dass Breton ihn tief ehrt, und dass seine Zeichnungen die Zeitschrift La Révolution surréaliste illustrieren.

Ausser Masson und Miró versuchen andere Zeichner und Maler, automatisch zu malen. Auch viele (wie Tanguy und Dali), die später den «anderen Weg» – des Traumabzeichnens – betreten, unternehmen zunächst solche Versuche. Hier verdienen vor allem die Werke, die Tanguy malt, bevor er sich in die Traumwelt vertieft, Anerkennung. Von den Künstlern, die in keinerlei Verbindung zur surrealistischen Gruppe standen und von Breton ignoriert wurden, müssen wir Hans Hartung erwähnen, einen Vorläufer der lyrischen, ja gestuellen Abstraktion. Schon 1922 macht er seine ersten informellen Zeichnungen im experimentellen Geist, den die Surrealisten so hoch schätzen.61 Wenn wir Vorläufer erwähnen, müssen wir auch von Kandinsky sprechen, der von den Surrealisten als wichtiger, verwandter Künstler anerkannt wird. In seiner «lyrischen» Periode, 1910-11, malt er bewundernswerte irrende Linien in einem aufplatzenden Raum, ohne dabei die Kunst, sich vom Innenleben treiben zu lassen, auf Schablonen zu reduzieren. Kandinsky wollte aber die Seele des Betrachters rühren.62 Dagegen kommen die Surrealisten – aus einer Neugier, die bald sehr intellektuell wird – bald dazu, ihre literarische oder zeichnerische «Passivität» scharf zu beobachten.

Die Endophasie63, die bei manchen Kranken einen «Wortschwall» freisetzt, lässt bei ihnen das Interesse für das, was sie reden, verlöschen. Auch manche pathologischen Zeichnungen könnten als surrealistisch unbeherrscht gelten, aber nur dann, wenn die surrealistischen Zeichnungen auch ohne Bewusstsein zustande kämen. Die meisten Kranken, die zeichnen, konzentrieren sich leidenschaftlich auf ihre Zeichnungen, in denen nicht sanfte, sondern knotige Formen überwiegen.

Wenn die Kunst der Geisteskranken die Surrealisten fasziniert, ist der Abstand zwischen ihren und diesen Werken doch gross. Die Surrealisten sehen darin nur – manchmal undeutlich – ihre eigene Gesundheit und ihr schlechtes Gewissen widergespiegelt. Bei ihnen geht es nur um Verstellung. L’immaculée Conception (Die unbefleckte Empfängnis) ist ausdrücklich als eine Sammlung von Verstellungen definiert. Ausser Artaud, der sich schon 1928 von Breton entfernt, benutzt kein Dichter der Gruppe Rauschmittel, um das Experiment der «systematischen Unordnung all unserer Sinne»64 zu machen. Michaux, der dem Kreis um Breton fernbleibt65, zählt zu denen, die am beharrlichsten versuchen, «den inneren Satz, den Satz ohne Worte, das Seil, das sich endlos abwickelt, mit allen inneren und äusseren Begleitumständen zu zeigen»66; dazu benutzt er sogar das verdächtige Mittel des Meskalin. Die Gruppe Le Grand Jeu (Das grosse Spiel) hält den Freunden André Bretons die Unterbrechung der para-hypnotischen Experimente in der Periode der Schlafzustände vor; sie wirft ihnen in ihren Forschungen zu grosse Furcht vor. Steht man am Rand des Abgrunds, so kommt die Angst. Die Surrealisten verstehen auch ziemlich schnell, dass es leichtfertig ist, sich in die Rolle der Kranken, der Wahnsinnigen und der Gefangenen versetzen zu wollen, wenn man dabei gesund und frei bleibt. Was hat dann den Surrealisten der Umgang mit den Geisteskranken eingebracht? Eine moralische Lehre, ein Beispiel der schöpferischen Reinheit. «Ich behaupte, so paradox es auch klingen mag, dass die Kunst der sogenannten Geisteskranken eine Reserve der geistigen Gesundheit ist. Diese Kunst ist nämlich frei von allen Einflüssen – Plänen, gesellschaftlichen Erfolgen oder Enttäuschungen, usw. -, die sonst die Kunst verdrehen. Hier haben die Mechanismen der künstlerischen Schöpfung alle Fesseln gesprengt. Durch eine erschütternde, dialektische Umkehrung erreicht der Künstler, indem er sich ganz zurückzieht und auf jeden Profit und jede Eitelkeit verzichtet, so sehr er auch als Individuum darunter leidet, diese totale Echtheit, die überall sonst fehlt, und nach der wir immer mehr dürsten.»67 Dies ist ein schöner Text: allerdings könnten wir ihn – vollkommen verkehrt – als Zynismus verstehen: wäre es doch zu leicht, Idole zu bewundern, ihnen aber nur ängstlich zu folgen, um selbst nicht zu «leiden»!

Die Kunst der Wahnsinnigen – vorausgesetzt, dass das Leben in der Anstalt die gesellschaftliche Kleinlichkeit und Eitelkeit wirklich ausschliesst-, wie die «Art brut», beeindruckt die Surrealisten durch ihren positiven asozialen Charakter. Einen ähnlichen Charakter haben «Kritzeleien» an günstigen (privilegierten?) Orten – wenn man die gesellschaftliche Zensur bedenkt, die auf ihrem oft zwanghaften Lyrismus lastet. Wir können nicht leugnen, dass die Kritzeleien der Aborte vielleicht nicht zur surrealistischen Kunst, aber bestimmt zur surrealistischen Tätigkeit gehören. Sie verbinden Wirklichkeit und Phantasie in ungebändigter Art. Hier hat nicht einmal der Begriff «anti-art» einen Sinn, da diese oft eindeutigen Formen ohne jeglichen künstlerischen, ästhetischen Ehrgeiz entstanden sind.

Auch die Zeichnungen, die Kinder verträumt und frei von jeder Vorschrift der Erwachsenen machen, gehören zu dieser Art der zeichnerischen Tätigkeit, bei der der Zeichner sein Genie und sein Talent ebenso vergisst wie sein Selbstgefühl. André Breton wirft Miró «ein gewisses Haftenbleiben der Persönlichkeit im kindlichen Stadium» vor, «dadurch entstehen Qualitätsunterschiede und Überladung in seiner Kunst, und seine Aussage wird intellektuell beschränkt»68. Andererseits schreibt er: «Wer sich in den Surrealismus vertieft, erlebt mit Begeisterung die schönsten Momente seiner Kindheit wieder.»69 Diese Vieldeutlichkeit veranschaulicht es: wecken wir unsere Spontaneität, so setzen wir nichts «Wildes», nichts unmittelbar Natürliches frei. Auch die «schönsten Momente» der Kindheit, die in uns weiterleben, wie die sogenannte Freiheit der «primitiven» Völker, werden von vielen Ritualien, Mythen und gesellschaftlichen Vorurteilen erdrückt.

Ganz offenbar wächst Mirós Kunst auf dem Nährboden der Kritzeleien und der Kinderzeichnungen. Dies ist aber kein Zeichen einer Rückkehr in die Kindheit. Der Künstler, der sich von der Kindheit inspirieren lässt, ist eben ein Erwachsener. Er will vor allem die zeichnerische Freiheit des Kindes wiederfinden. Manchmal benutzt er die Begriffs- oder Gattungsformen, mit denen das Kind mit einigen Strichen ein «Männchen» oder einen Vogel darstellt. Viele Künstler der «Art brut», insbesondere Dubuffet, suchen nach den Quellen der Zeichenkunst und gehen dann den Weg, den Kinder sonst gehen; dies bedeutet aber nicht, dass sie sich auf diesem Weg verlaufen.

Ich habe einmal beobachtet, wie ein vierjähriges Kind, das schon in der Periode der synthetischen, geschlossenen Formen war, die «Schmiererei» seiner zweijährigen Schwester verachtungsvoll abtat. Und doch entsprechen diese verworrenen Linien am besten dem, was die Zeichner, die für die besten Lehren des Surrealismus empfänglich sind, an der Grenze von dem entdecken, was man «Abstrakte Kunst» nennt: irrtümlich beruft man sich ja weiter auf die traditionelle Kunst. Vom Kleinkind können wir eben lernen, dass die gestuelle Zeichnung, die für es ein Spiel ist, weder abstrakt noch gegenständlich ist. Der Erwachsene sieht darin eine ganze Welt, und eben damit beginnt die Kunst.

So verlieren sich die Formen in den Zeichnungen Unica Zürns, der Gefährtin Bellmers. Sie kreuzen sich, fransen aus, werden verworren. Eine ähnliche Freiheit finden wir bei den experimentellen Künstlern, z. B. bei Jorn; bei manchen jungen Malern, die unter dem Einfluss des Surrealismus stehen und 1948 die Cobrabewegung bilden; bei lyrischen Malern, die mehr oder weniger zum Tachismus gehören – insbesondere bei Karl Otto Götz – und die Edouard Jaguer in seiner Zeitschrift Phases verteidigt. Durch die lyrische Abstraktion nach Geplatzte Kathedralen (1947), dem meisterhaften Beispiel von Wols, bricht anarchistische Gewalt in die Malerei ein, bleibt aber zunächst auf die Zeichnung beschränkt. Unter den surrealistischen Malern, die weder die Wirkung des Zufalls, noch neue Verfahren ihrer zeichnerischen Spontaneität hinzufügen, müssen wir Arshile Gorky erwähnen. Todeskampf (1947) verdankt zwar viel dem Einfluss von Miró, aber mit Bildern wie Tagebuch eines Verführers oder Die Leber ist der Kamm des Hahns (1944) treibt Gorky den freien Automatismus sehr weit. Natürlich kann die Spontaneität in der Malerei und in der Skulptur leicht auf technische Hindernisse stossen; solche Probleme gibt es nicht, wenn der Künstler nur den Bleistift benutzt. Wir werden aber sehen, dass die surrealistischen Künstler die Malerei zu beherrschen gewusst haben, indem sie sie durch mancherlei technische Neuerungen bereicherten.

Der Automatismus der Medien

Neben den Künstlern, die die Schlaffheit der Formen bis zur Auflösung treiben, müssen wir zunächst andere Spontaneisten erwähnen, die im Gegenteil durch eine pedantische, ja zwanghafte Wiederhol-Arbeit dichte Zeichnungen schaffen, die sehr zauberhaft oder liturgisch wirken. Sie sind manchmal Medien. Joseph Crépin z. B., der das Pariser Metapsychische Institut ausschmückte, war Klempner und wurde auf einer Ausstellung der «Art brut» von André Breton entdeckt. Was Breton über Crépin schreibt, ist lesenswert. Er teilt zwar nicht den Glauben an den Spiritismus, den der Maler unter dem Einfluss seiner emotionsreichen Erlebnisse angenommen hat, beginnt aber, nach dem Ursprung dieses aussergewöhnlichen Zustands zu suchen, in dem die Hand des Malers ohne sein Zutun und unter seinem erstaunten Blick arbeitet. Diese Mediumkunst ist kein Argument für irgendwelche alte Philosophien, sondern eine Tatsache, die zur Geheimpsychologie gehört, einem Bereich, in dem wir noch alles zu entdecken haben. Ähnlich wie Crépin baute Lesage – ein Bergarbeiter, von dem das Metapsychische Institut mehrere Werke besitzt – mit symmetrischen, vielfältigen und detaillierten Flächen seine mystischen Paläste. Symmetrie ist das Hauptmerkmal dieser offenbar religiösen Kunst: wir haben mit einer Art Komplex des Tabernakels zu tun.

Die Federzeichnungen von «Scottie» Wilson, einem Möbelverkäufer in Toronto, sind zwar von einem derartigen Komplex frei, aber mit parallelen, schuppenförmigen Rillen versehen. Sie erinnern an die Totemkunst der Indianer. 1945 wurden sie von Mesens in London zum ersten Mal ausgestellt. Marianne von Hirtum, eine bescheidene, bemerkenswerte Dichterin70, macht nächtelang kleine Stiche auf Papierblätter, indem ihr Blick und ihre Hand den Formen folgen, die ihnen die Maserung eingibt: in der Morgendämmerung liegen seltsame Gestalten auf ihrem Tisch. Ihre Zeichnungen, wie die Fetische, die sie aus Gips baut, strahlen eine Art Mondzauber aus.

Wohlbemerkt: diese inspirierten Künstler, die, ob sie Medien sind oder nicht, ihrer Arbeit Tag für Tag ihre ganze Zeit widmen, brauchen sich nicht anzustrengen, um einen besonderen Gnadenzustand zu erreichen, in dem sich ihre Spontaneität erst entfalten könnte. Sie suchen nicht nach der Inspiration, sie sind von ihr besessen, im dämonischsten Sinne des Wortes. Wölfli, Aloyse, Séraphine de Senlis, Hirschfield, Hector Hippolyte, Miguel Hernandez brauchen nicht «ihr Genie zu vergessen». Sie lassen ihm freien Lauf. Sie weihen ihm ihr Leben. Cheval z. B. sammelte auf seinen Briefträgergängen die Steine, die zu Bestandteilen der traumhaften Architektur von seinem Palais idéal werden sollten. Bei begeisterten Künstlern macht dieser schöpferische Drang das Werk, an dem sie gerade arbeiten, zum hungrigen Ungeheuer71; bei inspirierten Handwerkern verzehrt er und verklärt er den Alltag.

Der Pfarrer Fouéré bildet in bretonischem Granit die Rothéneuf-Legende ab. Der Fährmann Massé in Les Sables d’Olonne bedeckt alle Wände seines Hauses mit Muscheln. Isidore, ein Strassenkehrer im Friedhof von Chartres, bedeckt seine ganze Umgebung mit einem Mosaik aus Geschirrstücken. Er sagte: «Ich habe meine Arbeit weitergeführt, als würde ich von einem Geist geleitet, von etwas, was mich führt und mir sagt, wie ich es machen soll: Wenn es sich in meinem Kopf festgesetzt hat, dann entfaltet es sich in mir, in meinen Händen, in meinen Fingern, und es treibt mich zur Arbeit.»72 Bei Pont-sur-Yonne liegt der Garten von François Portat: es ist ein «Trocadero» voller Embleme und schillernder «grosser Räder». Die Kunst dieser Architekten und Innenarchitekten ist, wie die der säuberlich genauen Zeichner, inbrünstig und märchenhaft. Jeder errichtet seinen Tempel oder gehorcht dem «Dämon», von dem er besessen ist. Schliesslich machte Schwitters nichts anderes, wenn er seine Merzbauten herstellte. Er schuf drei nacheinander: in Hannover (1925), in Norwegen (1932) und in Ambleside (England, 1945). Weder seine Freundschaft mit Arp, noch der Inhalt seiner Zeitschrift Herz machen ihn zum Dadaisten. Vielmehr schuf er für sich selbst, indem er in Gips und Lappen alle kleinen Abfälle des Alltags hüllte, einen «heiligen Bau».73

Die Kunst des Zufalls

Man kann sich schlecht vorstellen, dass diese Benediktiner des Übernatürlichen dem Zufall auch nur den kleinsten Anteil zur Lösung ihrer Aufgabe überlassen könnten. Da sie dem Diktat eines Geistes folgen, wäre es für sie Verrat. Sobald sie von der vorbestimmten Linie abwichen, war das Nachlässigkeit. Da mussten erst Künstler wie Arp, Ernst, Masson, Dominguez, oder – vor ihnen – Duchamp und Man Ray kommen, die es dem Zufall überliessen, für sie zu schaffen. Yves Klein räumt dem Zufall sogar noch mehr Freiheit ein – weswegen er ausserhalb des Surrealismus steht-: in seinen Anthropométries, die er mit «lebendem Pinsel» malt (1960), in seinen «Regenund Windgemälden» und seinen «Feuermalereien» (1962). Der Automatismus wird nicht mehr in dem Sinne des Psychologen, sondern in dem des Physikers aufgefasst, wenn das Bild durch Regen entsteht, der auf eine vor ein Auto gebundene Leinwand trommelt, oder durch einen (blau) angestrichenen Akt, der sich über ein Tuch rollt. Wenn man den Zufall mitspielen lässt, muss man eine geistige Distanz zum eigenen Werk bewahren, so dass man es zunächst geringer einschätzen wird und seine Subjektivität steigern kann. Als Dada noch lange nicht in Sicht war – 1913 -, räumte Marcel Duchamp, kühler noch als Yves Klein, dem Zufall alle Freiheit ein: in seinen «stoppages étalons». Hierbei notierte er die jeweiligen Verformungen eines 1 m langen Drahtes, der dreimal nacheinander aus 1 m Höhe fiel. Ein Physiker!

Diese absichtliche Herausforderung des Zufalls, die man in zahlreichen Richtungen einer zeitgenössischen, vieldeutigen Kunst schon sehr entwickelt und systematisch gestaltet findet, räumt der Subjektivität zu wenig Platz ein. Deswegen kann diese Kunst – obwohl der Künstler nach freier Entscheidung das Zufallsprodukt interpretiert und bearbeitet – den Richtlinien des Surrealismus nicht entsprechen. Surrealistischer ist Dubuffets Haltung, für den «der Künstler mit dem Zufall verbunden ist» – in der Arbeit und in seinem Leben. In den Malmitteln treffen sich heterogene Materien, die in unvorhersehbarer Weise aufeinander wirken können. «Die Bezeichnung ,Zufall` ist ungenau», schreibt Dubuffet, «man sollte lieber von Materien sprechen, die sich rühren und etwas ausdrücken wollen.» Die Technik öffnet sich glücklichen Zufallsbildungen, «die der Künstler wie Wildbret einfängt», und sie soll bei der Behandlung von Materie Zufallserscheinungen hervorrufen und dann meistern können. 74 Die Lektion des Dadaismus wird auf diese Weise gebieterisch vom Collège de pataphysique übernommen.

Dubuffet erzählt, wie Unvorhergesehenes aus dem Alltagsleben bei der Entstehung eines Werkes mitspielen kann. Sein Grand Nu charbonneux (Grosser Kohleakt) ist das Ergebnis einer «Interpolation von einer nackten Frau und Anthrazit», den er gerade geliefert bekam.75 In dieser Art Zusammentreffen spielen Humor und Poesie mit. Der Dadaismus hatte in seinen antikünstlerischen Angriffen schon alle Zufallsbildungen, die wir hier erwähnt haben, verwendet. Hans Arp, ein Begründer des Dadaismus in Köln (1919 mit Ernst und Baargeld), macht schon 1916 automatische Zeichnungen und führt mit Sophie Täuber viele Experimente mit den verschiedensten Materialien aus. 1916 gibt er einem Katalog den Titel Den Gesetzen des Zufalls entsprechend. Haben wir unseren Ausgangspunkt, die automatische Schrift, aus dem Auge verloren? … Der «objektive Zufall» wird uns darauf zurückführen. Dieser «objektive Zufall» ist keineswegs nur ein unvorhersehbares Zusammentreffen zweier voneinander unabhängiger Folgen von Erscheinungen, sondern ein Hinweis. Dieses Ereignis wird im Augenblick der Entstehung dem Zeugen mehr oder weniger bewusst; es wird bald von ihm interpretiert: als eine wunderbare Ankündigung oder sogar Vorahnung eines Schicksals. Gedichte wie La Nuit du tournesol (Die Nacht der Sonnenblume), einige berühmte Seiten aus Nadja oder aus L’Amour fou von Breton gründen ihr Geheimnis auf diese Art von Voraussagen. Dass man auf solche Hinweise achtet, die irgendwoher kommen, steht mit der surrealistischen Haltung der Medienkunst gegenüber in Verbindung. Will uns nicht das «automatische Diktat des Gedankens für diese Art Botschaft empfänglich machen? Michel Carrouges hat es so ausgedrückt: «Die automatische Schrift ist nichts anderes als die Wiedereinführung des objektiven Zufalls in die Sprache. Der objektive Zufall ist die automatische Schrift des Schicksals in noch unbearbeitet erscheinenden Tatsachen.»76 Es ist selbstverständlich, dass die Malerei im Bezug auf das Schicksal dem Wort in keiner Hinsicht nachsteht.

Das haben jedenfalls die Freunde Victor Brauners beteuert, als der Maler 1938 von Glassplittern verletzt wurde und sein linkes Auge verlor. Sieben Jahre vorher, bevor er aus Paris nach Rumänien gegangen war, hatte er mehrere Gemälde gemalt, die eine Zwangsvorstellung vom Auge anzeigen, namentlich La Porte und – noch deutlicher – Autoportrait à l’œil énuclée (Selbstporträt mit ausgeflossenem Auge, 1931). Doktor Mabille hat die Freudsche «Fehlleistung» in Beziehung zum objektiven Zufall oder zur Voraussage gebracht und offenbart, dass das Autoportrait und der Unfall aus dem gleichen masochistischen Drang entstehen, der aber durch das stolze Bewusstsein kompensiert wird, damit den Eingeweihten der Antike nahezukommen, die ja bekannterweise «blind» waren.77 Brauner, der sein erstes in Paris entstandenes Gemälde La Ville mediumnique (Medienstadt) nennt (1925), hatte in seiner Kindheit einige spiritistische Sitzungen miterlebt. Die geisterhaften Perioden seines Werkes, zum Beispiel 1939 seine «Dämmerungsphase», die von La Chimère beherrscht wird (die auch wieder in Pierre philosophale, 1940, auftritt); oder seine beunruhigenden, durchsichtigen Bilder Etre rétracté, réfracté, espionné par sa conscience (Vom Gewissen gequält und gefoltert, 1951) und der luminöse Sarg in Réalisation du couple (Verwirklichung des Paares, 1957) zeugen von einem Wichtigwerden des Trugbilds, dessen Ausdruck Brauner in den Kernpunkt der surrealistischen Mysterien stellt.

Wenn die surrealistische Spontaneität darin besteht, den «objektiven Zufall in die Sprache einzuführen» – oder ins Bildliche-, dann ist es nicht erstaunlich, dass wir ihm so viele technische Erfindungen verdanken. Die sind nicht alle magische Botschaften, die den Menschen betreffen. Aber alle zeugen – und hier liegt der Fehler der Surrealisten, die sich gegen die rein optischen Spiele wenden – von der Überraschung durch das Wunderbare. Wir erwähnen hier einige auf solchen Zufällen beruhende Erfindungen.

Wie hätte Masson in seiner Malerei die gleiche Freiheit erreichen können wie in seinen Zeichnungen, wenn nicht durch einen Gewaltakt? Er gibt es auch zu. Folgendermassen hat er seine Sandgemälde erfunden: «Wie nötig diese Erfindung war, wurde mir bewusst, als ich den Abstand zwischen meinen Zeichnungen und meinen Ölgemälden betrachtete – der Abstand zwischen der Spontaneität und der erfrischenden Schnelligkeit der ersteren und dem fatalen Nachdenken bei den letzteren. Die Lösung fand ich ganz plötzlich, als ich am Strand die Schönheit des Sandes bewunderte, der in unzähligen Nuancen und Variationen schimmerte oder matt war. Zu Hause breitete ich auf dem Fussboden eine unpräparierte Leinwand aus und spritzte viel Leim darauf; dann überschüttete ich das Ganze mit Sand, den ich vom Strand mitgebracht hatte … Nacheinander schüttete ich mehrere Schichten Leim und Sand von anderer Beschaffenheit und mit anderen Körnern darauf und bereicherte so das Verfahren. Trotzdem war, wie bei Tintenzeichnungen, der Vorwurf für Figürliches gegeben, und dieses heterodoxe Gemälde wurde mit einigen Pinselstrichen und einigen Farbflecken vollendet.»78 Die Matieristen, Tapies zum Beispiel, gehen später noch weiter: sie lassen einfach den Sand, ohne darauf Gegenständliches zu zeichnen … Im Film Les Quatre Elements, den Gremillon über Masson dreht, wohnt man dem Zauber der Materie bei: ein schon gemaltes Bild liegt auf dem Boden, wird mit Leim bespritzt und dann mit Sand überschüttet. Dieser Schleier verzaubert das Verfahren. Die Leinwand wird (frontal zur Kamera) aufgerichtet, und der Sand rutscht von den Stellen, die noch ohne Leim sind. Dieses plötzliche Erscheinen des Unvorhergesehenen zieht uns in seinen -Bann. Es beweist, dass die Malerei weniger dazu da ist, an der Wand betrachtet zu werden, sondern vielmehr während des Entstehens begriffen werden soll. Der Vorgang ist vor allem wichtig. Natürlich bleibt nach diesem Vorgang eine Spur zurück, die der Maler signiert …

Die «drippings» von Jackson Pollock – die man in Homme intrigué par le vol d’une mouche non-euclidienne von Max Ernst (1947) und in Tournoi de Comètes (1957) von Masson als Malweise integriert findet – gehören auch hierzu. Der schwingende Arbeitsvorgang wird hier verdeutlicht: es geht darum, auf eine – auf dem Boden liegende – Leinwand mit schwingenden oder unregelmässigen Gesten (zum Beispiel den Gesten des Strassenkehrers) Farbe aus einer durchlöcherten Büchse tropfen zu lassen. Der Maler neigt sich über die Fläche und führt mit seinem ganzen Körper in regelmässigen oder unregelmässigen Rhythmen einen wahren Tanz aus, während er Farbe regnen lässt – ein Schöpfer, der sich kaum der Formen, die er hier verflicht, bewusst wird. Es sind die Tropfspuren seiner Gesten. Erst nachdem sich der Maler aus diesem Wirbel befreit, betrachtet er sein Werk und akzeptiert es – oder nicht – als einen Pollock. Wir können bedenkenlos einen Pionier des action painting in die Nachfolge des Surrealismus stellen: nicht nur, weil dieses Verfahren hin und wieder von den Malern der Gruppe gehandhabt wurde, sondern weil der Einfluss wirklich historisch ist. Pollock geht zum dripping über, nachdem die Surrealisten, während des Krieges, in die Vereinigten Staaten gekommen sind. Max Ernst begegnet Peggy Guggenheim, heiratet sie 1941. Sie aber leitet die berühmte Galerie «Art of this centurv» (New York), wo dann Pollock 1946 seine drippings ausstellt.

Im Museum of Modern Art in New York wird ein ganzer Saal einer Fassung der Nymphéas von Manet gewidmet; dies schmeichelt selbst dem modernsten Auge. Ein bisschen weiter fällt der Blick auf die grossen Pollocks: hier hat der Pointillismus gar nichts Impressionistisches an sich. Er ist ein Produkt der Hand, des Körpers, des schwindelerregenden Tanzes, nicht des Auges. Die Gemälde erscheinen rauh. Sie drücken Wut und Beklemmung aus. Freie Linien überschneiden so viele andere, und schliesslich entsteht ein Gefängnis mit Schlingen und Fliegen. Sind das Symbole? Es verschlägt uns den Atem, wenn wir im beissenden Dunst der Grossstädte sind: wo sich eine unergründliche Gesellschaft liberal gibt, wo man Gewalttaten und Drogenmissbrauch an jeder Strassenecke erwartet, und wo sich gigantische Bomber – etwas weiter entfernt – an anderen drippings üben.

Zwanzig Jahre vorher erzielte auch Max Ernst an der Meeresküste einen Entfremdungseffekt (und vielleicht ist dies mehr als ein Zufall) – nicht dadurch, dass er wie Masson darauf wartete, was seine Hände geschaffen haben würden, sondern dadurch, dass er mit schon ermüdetem Blick ganz plötzlich die Maserung eines gescheuerten Fussbodens erfasste. Der Schrift Bretons über diesen Bereich entspricht der nicht weniger berühmte Text, in dem uns Max Ernst erklärt «wie man die Inspiration erzwingen kann.»79

«Ich erinnerte mich an meine Kindheit …: gegenüber von meinem Bett stand ein Brett aus imitiertem Mahagoni. Dies hatte mir im Halbschlaf oft optische Visionen eingegeben. Als ich mich nun bei Regenwetter in einer Herberge am Meer befand, übte der Fussboden mit seiner Maserung, die vom vielen Scheuern so deutlich geworden war, auf meinen irritierten Blick solchen Zwang aus, dass ich mich entschloss, das Symbolische dieser Zwangsvorstellung zu erforschen; und, um meinen meditativen und halluzinato fischen Fähigkeiten Hilfestellung zu leisten, machte ich vom Fussboden eine Reihe von Zeichnungen, indem ich über zufällig ausgewählte Stellen Papier legte und die Maserung mit der Bleistiftmine durchrieb. Als ich aufmerksam die so erhaltenen Zeichnungen betrachtete – die dunklen und helleren Nuancen -, wurde ich von der Intensivierung meiner seherischen Fähigkeiten und der halluzinatorischen Folge von einander entgegengesetzten Bildern, die sich mit der Beharrlichkeit und Schnelligkeit von Liebeserinnerungen immer eins über das andere schoben, sehr überrascht.

Meine Neugierde war damit geweckt und ich war wie verzaubert: ich machte mich also daran, in gleicher Weise alle möglichen Arten von Stoffen, die in meinem Blickfeld waren, zu untersuchen: Blätter mit ihren Rippen, die ausgefransten Ränder von Sackleinen, die Pinselstriche einer ‹modernen› Malerei, einen Faden, der von einer Spule abgerollt war, etc.»

Zu dieser Zeit ist Max Ernst noch orthodoxer Surrealist und (wie immer) introvertiert: er behält streng die Formen bei, die er vorfindet. Es sind in sich geschlossene Systeme, die er uns durch visionäre Anspielungen erschliesst. Diese werden noch durch die Titelgebung verdeutlicht. In diesem zweiten Vorgang wird die Frottage in ein Kunstwerk verwandelt, und das poetische Wort bestimmt die Einzigartigkeit dieses Werkes. Dies erfüllt die dogmatische Forderung des Surrealismus, auf diese Weise Bilder zu schaffen. Ebenso gestaltete Masson mit einigen Pinselstrichen seine Sandgemälde, indem er sie vollendete. Max Ernst, dessen Bilder oft überwältigend sind, lässt dem unbewussten Betrachter, an den er sich wendet, nicht die Freiheit, nach eigenem Belieben zu träumen. Es sei denn, man denkt, dass La Mariée du vent (Die Windbraut), Le Pain vacciné (Das geimpfte Brot) oder Le Systeme de monnaie solaire (Das System des Sonnengeldes) nur in das Album Histoire naturelle80 aufgenommen sind, weil sie die gesamte Natur mit sich bringen, in der die menschlichen Träume schweben.

Das gleiche gilt für das, was Dominguez 1935 «Décalcomanies sans objet» (Decalcomanien ohne Objekt) oder «Décalcomanies automatiques à interprétation prémédité» (Automatische Decalcomanien mit vorher überlegter Interpretation) genannt hat. Dies sind Monotypien, nach einem alten Verfahren, das in den Ateliers schon seit langer Zeit bekannt ist. Auf eine flach hingelegte Fläche – Papier, Leinwand, Glas-, auf die Farbe (oft Tempera) oder mit Wasser vermischte Tinte gegeben wird, legt man ein Blatt Papier, dass man noch leicht mit der Hand aufdrückt. Dann zieht man dieses Papier von der darunter liegenden Fläche wieder ab. Beim Ablösen entstehen unvorhersehbar oft sehr schöne und zur Inspiration anregende Eisblumenmuster. Dominguez, und mit ihm Marcel Jean, überliessen es nicht dem Betrachter, sich darin eine Welt auszumalen (wie man bei den Tintenflecken der Rorschachtests vorging), sondern er glaubte, eine bestimmte Interpretation anregen zu müssen.81 Als Max Ernst dieses Verfahren aufnahm und es auch in grossen Gemälden der Arizona-Periode, die eine der schönsten war, anwandte, konnte er auch nicht umhin, den wuchernden, zähflüssigen Formen seiner Decalcomanien gegenständliche Elemente beizufügen.

Gewiss, zur Poesie gehört mehr als Rezepte zum Bildermachen, über die man hinausgehen muss. Von den Frottagen und Durchpausbildern gehen die Maler, indem sie ein Lineal oder einen Kamm verwenden, leicht zu den Raclagen über. Max Ernst versteckt uns kaum die Schabereien in seinen berühmten Forêts-arêtes (Grätenwäldern) von 1927, ebensowenig das Durchpausen in Die Palette (1953). Um 1946 zeigt Kujawski – im Geist der gestuellen Malerei – das Schaben mit dem Kamm ganz deutlich. Der Surrealist vermag, aus der Materie Zauberhaftes zu gestalten. Jedoch bleibt die Ölmalerei, wenn man ihren Vorsprung in der chemischen Zusammensetzung betrachtet, eine der hervorragendsten Techniken. Und das trotz der fieberhaften Forschungen nach neuen Materien – im Dadaismus, und heutzutage in der optisch-kinetischen Kunst und den technologischen Künsten. Aber das Hinausgehen über bestehende Rezepte ist eine notwendige, wenn nicht schon ausreichende Bedingung, um Zauberhaftes hervorzubringen. Dies kann den Surrealisten leicht zu dem führen, was André Lhote, dessen Malerei uns hier nicht interessiert, sehr treffend «Hysterie der technischen Erfindung» nennt.82 Er versteht darunter, dass der Maler seine Verfahren nicht mehr kontrollieren kann und über die Grenzen, die seiner Malmethode gesetzt sind, hinausgeht, – so dass er sich als erster vor seinem vollendeten Bild fragen muss, wie dies denn entstanden sein mag. Er erhofft nicht mehr eventuelle «Zufallsbildungen der Materie» – sie strömen sowieso durch die Lücke, die der Maler (der wenigstens für einige Augenblicke malbesessen ist) in der zu gut durchdachten Ordnung seiner Malweise, seiner Geschicklichkeit oder in den Verfahren, die seine Inspiration «erzwingen» sollen, offen gelassen hat.

Jedoch ist der Augenblick der maltechnischen Erfindung die glückliche Folge des Suchens. Es heisst schon, mit der technischen Routine brechen, wenn man auf die Suche nach neuen Mitteln geht. Erst dann geht die «Hysterie der technischen Erfindung» über die Routine hinaus und wendet sie in Mischungen an. Wie wir gesehen haben, waren hierbei sowohl der Dadaismus als auch der Surrealismus wagemutig, experimentierfreudig. In den verschiedenen Bereichen der bildenden Kunst verdanken wir ihnen mehr als dreissig technische Erfindungen.83 Wenn man betrachtet, dass jeder Erfindung ein starkes Interesse vorausgegangen ist, scheint uns dies schon eine neue Haltung vorwegzunehmen. Wir stehen jetzt allen möglichen Erscheinungsformen der Materie, die noch nicht erforscht sind, gegenüber: ob sie sich nun im Atelier, oder in der Stadt, auf dem Land, am Strand, im Leben zeigen.

Dominguez erfand keine neuen Verfahren, als er um 1939 einige Male am Tag seinen Pinsel über die gleiche Fläche gleiten liess, während er mit seinen Freunden plauderte oder trank. Zwischen Bewusst und Unbewusst überliess er willenlos seine Hand einer gestuellen Träumerei, die so maschinell registriert wurde. Diese Produkte der graphischen Nebenkonversation nannte er hochtrabend «lithochronische Oberflächen», weil sich auf ihnen die einzelnen Schichten der alltäglichen Zeit nacheinander absetzten. Und die Produkte dessen, was Marcel Jean und Arpad Mezei eine «reine Trägheit»84 nennen, gestalten die «kosmische Periode» von Dominguez. Sie ist eine der schönsten und reichsten des Malers. Wenn man etwas vom Surrealismus verstanden hat, wird man nicht mehr darüber staunen, dass das Universum gerade in der Hand dessen zu keimen beginnt, der, wie wir gesehen haben, abwesend ist.

Paul Eluard scheint diese Trägheit von Dominguez zu legitimieren, wenn er schreibt: «Die poetische Objektivität entsteht nur dadurch, dass man subjektive Elemente, über die der Poet nicht als Meister gebietet, sondern deren Sklave er ist, aufeinander folgen lässt und miteinander verflicht».85 Der gleiche Eluard stellt aber auch «beabsichtigte» und «unbeabsichtigte» Poesie einander gegenüber. Diese klare Unterscheidung macht den Poeten gleichzeitig zum Meister und Sklaven. Von einem bestimmten Punkt an schliessen sich diese beiden Positionen nicht mehr gegenseitig aus. Sie gehören alle beide in den Rahmen einer Aktivität des Geistes, dessen Perspektiven sie verschieden beeinflussen können. Die Poesie, ebenso wie die Malerei, schwankt zwischen automatischer Schrift (unbeabsichtigt) und Ausarbeitung (beabsichtigt) der Werke, die ausdrücklich an Themen gebunden sind – Verzauberung, Ungewöhnliches, Grausamkeit, Liebe-, hin und her, und sie bleibt für die Inspiration ein gezügeltes oder loses Ausdrucksmittel.

Eluard schreibt weiter: «Es ist nötig zu wissen, dass sie (die Gedichte) die Konsequenz eines ziemlich klar bestimmten Willens sind: das niedergeschriebene Echo der Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit.»86 Aragon, der die herausfordernde Behauptung Bretons geteilt hat «Wir haben kein Talent» (Erstes Manifest), wendet sich in seinem Traitt du style unbarmherzig gegen diejenigen, die ihre Trägheit mit dem Surrealismus begründen wollten: «Unter dem Vorwand, es ginge um Surrealismus, glaubt sich der erste beste Hund dazu berechtigt, seine kleinen Schweinereien mit der wahren Poesie gleichzusetzen; dies kommt der Eigenliebe und Torheit wunderbar entgegen.»87 So schreibt auch Breton, der fordert, dass man von der Unterscheidung zwischen real und emotional auf den «Kern, in dem Gefühl Lebendiges ausstrahlt» zurückkommen soll, dass «das – mehr oder weniger intensive – subjektive Gefühl in der Kunst nicht in direkter Weise schöpferisch sei, dass es nur einen Wert erlange, wenn es indirekt wieder vom Innersten einverleibt werde, aus dem ja der Künstler schöpfen soll».88 Wer aber schöpft, wählt auch aus.

Schon Picabia beteuerte 1920 in einem Brief (den erstmalig Oliver Revault d’Allonnes89 veröffentlicht), dass die «Rückwendung zur Kindheit», die psychoanalytisch betrachtet die Dadaisten betreffe, nicht mit frühzeitigem Schwachsinn zu tun habe: «… Der Schwachsinn hat den Widerstand der Willensleistung oder wenigstens deren Minderung zur Folge, doch wir haben den Willen … Wir wählen zwischen den Assoziationen der Ideen und Worte, die uns die graue Materie unseres psychischen Gärens liefert. Und die Wahl gibt manchmal unseren Werken den Charakter von etwas ,Schwerfällig-Unvernünftigem› – wie Sie glauben. Es wird Ihnen klarer werden, wenn ich Ihnen den Mechanismus unseres Willens erkläre: Im Augenblick, wo sich die Assoziation der Ideen formt, ist er noch negativ, wird aber positiv bei der hierauf einsetzenden Wahl …»90 Auf den Gang der Spontaneität, wobei sich nach Picabia übrigens an dem Problem «irgend etwas» stösst (was ja immer etwas ist), folgt der zweite Gang der bewussten Wahl: für den Maler oft die technische Ausarbeitung. Miró nimmt hierzu klar Stellung. Die Materie inspiriert ihn zunächst gefühlsmässig, so dass er darauflos malen kann. «Wenn die anfängliche Begeisterung verloschen ist», räumt er die Leinwand weg und vergisst sie – manchmal monatelang. Eines Tages aber stösst er darauf, er «zieht sie hervor und bearbeitet sie kühl wie ein Handwerker.»91

Mit dem Automatismus schlagen uns Dadaismus und Surrealismus nicht vor, uns ichbezogenem Gefallen hinzugeben, sondern eine Kunst und Poesie zu leben, eine Ethik des unaufhörlichen Schaffens. Die Freiheit ist hierbei ein bedeutenderes Ziel des Willens und der Hoffnung als messbare Verantwortlichkeit. Die Philosophie des Surrealismus umspannt in schwieriger Synthese den romantischen Fatalismus, wo der Künstler nur geheiligtes Spielzeug der unkontrollierbaren Natur ist, und einen Humanismus, der in der rationellen Tradition verankert ist, nach der der Mensch entschieden über die eigene Natur gebietet. Indem der Surrealismus die psychologische Spontaneität erschloss, konnte er weder die als obskur geltende Welt des Traums und des Unbewussten, noch die leidenschaftlichen Kräfte des Genialen aus dem Bereich des Menschlichen verbannen. Auf dem Wege des Automatismus sind auch die Werke des Traumhaften und der «kritisch-paranoiden Methode» zum Surrealismus gekommen. In dieser Hinsicht geht der Surrealismus über den Dadaismus, der wenig geträumt hat, hinaus.

Anmerkungen
58 Genèse et perspective … Le Surréalisme et la peinture, op. cit., S. 67-68.
59 René Passeron, Histoire de la peinture surréaliste, op. cit., S. 68 und 87; J. Dupin, Joan Miró, op. cit.
60 ebenda.
61 R. de Solier, Hans Hartung, Quadrum, Nr. 2, November 1956.
62 Du spirituel dans l’art (Das Geistige in der Kunst), 1913, französische Übersetzung, Paris, Editions de Beaune, 1951.
63 In der Psychologie angewendeter Ausdruck, um den inneren Monolog zu bezeichnen: Egger (1881), Charcot, Gilbert Ballet (1886), Saint-Paul (1902). (Jean Cazaux, Surréalisme et psychologie, Paris, José Corti, 1938, S. 11 ff.)
64 Rimbaud, Lettre du voyant, Lettres de la vie littéraire d’Arthur Rimbaud, Paris, Gallimard.
65 Ist in Anthologie de la poésie surréaliste von J.-L. Bédouin, Paris, Seghers, 1964, nicht erwähnt.
66 Vitesse et tempo, Quadrum, Nr. 3, 1957, S. 15 (Passeton, Conscience et peinture, Henri Michaux gewidmet, Paris, Editions de l’Herne, 1966, S. 396.
67 L’art des fous la clé des champs (1948), Le Surréalisme et la peinture, op. cit., S. 316, und La Clé des champs, op. cit., S. 354.
68 Genèse et perspective …, Le Surréalisme et la peinture, op. cit., S. 70.
69 Manifeste du surréalisme, Les Manifestes du surréalisme, Paris, Sagittaire, 1946, S. 65.
70 Les Insolites, Paris, Gallimard, 1956.
71 E. Souriau, Le Mode d’existence de l’œuvre à faire (Wie das Werk, das entstehen soll, existieren wird), Bulletin de la société francaise de philosophie, 1956, Nr. 1, S. 5.
72 Gilles Ehrmann, Les Inspirés et leurs demeures, Paris, Edition du Temps, 1962, Vorwort von André Breton, S. 39.
73 Marcel Brion, La Peinture allemande, Paris, Tisné, 1959, S. 158.
74 Dubuffet, Prospectus aux amateurs de tout genre, Paris, Gallimard, 1946, S. 50 bis 54.
75 ebenda, S. 70.
76 M. Carrouges, Le Hasard objectif, Le Surréalisme, colloque de Cérizy, 1966, op. cit., S. 272.
77 Pierre Mabille, L’Œil du peintre, (Das Auge des Malers) Minotaure, Nr. 12-13, 1939. Sarane Alexandrian, Victor Brauner l’illuminé, (Victor Brauner erleuchtet), Cahiers d’art, 1954, Alain Jouffroy, Brauner, Editions le musée de poche, 1959, S. 26.
78 Auszug aus einer Konferenz im Pavillon de Marsan, März 1961. Im Katalog der Retrospektive André Masson, Musée national d’Art moderne, Paris, März 1965, S. 9-10 zitiert.
79 L.S.A.S.D.L.R., Nr. 6, Mai 1933, S. 43-45, wieder aufgenommen in: Au-delà de la peinture, Cahiers d’art, Nr. 6-7, 1936, wo das Datum 10. August 1925 angegeben wird. Ähnlich erzählt Max Ernst über seine Erfindung der Collage 1919.
80 Paris, Jeanne Bucher, 1926.
81 Das Album Grisou, in dem diese interpretierten Decalcomanien gesammelt waren, wurde noch nicht veröffentlicht. Marcel Jean und A. Mezei, Histoire de la peinture surréaliste, op. cit., S. 266.
82 Erst durch Wahnsinn wird der Handwerker zum Poeten; erst, wenn er der Technik den Vorzug gibt, gibt er dem Betrachter die Illusion, der Technik zu entrinnen und die höchsten Höhen zu erreichen. Bei dem, der mit der Hand arbeitet, ob er Radierer, Bildhauer oder Maler ist, kommt alles von der Technik. Im Hinblick auf Grünewald, Tintoretto, EI Greco und auf die Bildhauer Juan de Juni und Beruguete könnte man sogar von einer Hysterie der Technik sprechen. Traité du paysage, Paris, Floury, 1941, S. 17.
83 Wir haben diese in Histoire de la peinture surréaliste, op. cit., S. 193 aufgezählt.
84 Histoire de la peinture surréaliste, op. cit., S. 266.
85 L.S.A.S.D.L.R., Nr. 5, S. 13.
86 Les Dessous d’une vie ou la pyramide humaine, Paris, Gallimard, 1926.
87 Traité du style, Paris, Gallimard, 1928,S. 1 88. Die beiden letzten Texte werden von F. Alquié zitiert und kommentiert, Philosophie du surréalisme, Paris, Flammarion, 1955, S. 20-22.
88 Breton, Position politique du surréalisme, S. 37. Von Alquié zitiert, op. cit., S. 186.
89 La Création artistique et les promesses de la liberté, Paris, Klincksiek, 1973, S. 132.
90 Brief an H. R. Lenormand, Bibliothek Doucet, Picabia-Archiv, Akte 1920. Revault d’Allonnes zitiert das Ende des Briefs: Auf dem Weg zur Erkenntnis gehen wir zur Kindheit zurück. Die Kinder sind der Erkenntnis näher als wir, denn sie sind dem Nichts näher, und die Erkenntnis ist das Nichts . . . op. cit., S. 133. Wir haben schon von diesem Nichts gesprochen.
91 James Johnson Sweency, Miró-Artikel, in Art News Annual, Ne. 23, 1954, S. 187.

René Passeron
Lexikon des Surrealismus
Somogy Paris

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