Klees feine kleine Klumpgeister

Aus Wellenlinien findet der Kopf zu seiner Form. Der Schwung des Bleistifts hat die Schädelkontur geprägt, in der zwei Kreise starren wie geweitete Augenlider. Vor Mund und Nase reckt das in einem Zug gefangene Gespenst seine Hand, ein Homunculus aus Blick und Bewegung. «Kein Tag ohne Linie», Paul Klee hat das Plinius-Zitat dem Blatt «Süchtig» als Unterzeile mitgegeben. Im Jahr 1938 war dieses «nulla dies sine linea» dem fast Sechzigjährigen indes weniger Vorgabe als aufrichtige Zustandsbeschreibung. Als Emigrant lebt der ehemalige Bauhausmeister und von den Nationalsozialisten als «entartet» entlassene Düsseldorfer Akademieprofessor wieder in seiner Heimat, in Bern. Hinter dem an unheilbarer Sklerodermie Erkrankten liegen Jahre, in denen er nicht mehr als 25 Werke «schaffte», doch geht es ihm, vorübergehend, besser.

«Die Production nimmt ein gesteigertes Ausmass in sehr gesteigertem Tempo an», schreibt er an seinen Sohn Felix. «Zwölfhundert Nummern im Jahr 39 sind aber doch eine Recordleistung.» Und an den befreundeten Kunsthistoriker Will Grohmann: «Das Jahr war bildnerisch reich. So viel habe ich nie gezeichnet, und nie intensiver.» In seinem Todesjahr 1940 wird er das «Stilleben am Schalttag» malen, dessen Titel anklingen lässt, dass Klee die eigene Produktivität dem Kalender einschreibt, als gelte es, mit der Flut der Blätter und Bilder das Vergehen der Zeit zu kanalisieren, um dem unaufhaltsam näher rückenden Tod entgegenzuarbeiten.

Tagebuch in der Kunst

Zeichnungen sind für Paul Klee keine Verzettelungen, seine Notizen auf Papier. Die Kalligrafien, Skizzen, Wortspiele, Karikaturen, Abstraktionen bleiben tägliche Etüde – ein Tagebuch in der Kunst. An Daniel-Henry Kahnweiler schreibt Paul Klee, er «habe seit 1920 keine Zeichnungen mehr verkauft, besitze alles selbst, und gebe höchstens einmal etwas als besondere Auszeichnung schenkungsweise. So denke ich von Zeichnungen.» In den Wochen, bevor er in ein Sanatorium in Locarno eingewiesen wird, in dem er am 29. Juni stirbt, reduziert er seinen Strich noch einmal. «Der Schrank» besteht nur noch aus zwei Punkten und vier Strichen. Die Kleisterfarbe der breitgezogenen schwarzen Konturen und der signalrote Anstrich des Möbels sind knitterig aufgetrocknet, das feine Papier hat eine Oberfläche wie sprödes Holz.

Mehr als zweihundert Arbeiten aus Klees letzten Jahren zeigt das Kölner Museum Ludwig, wobei die Schau «Paul Klee. ,Kein Tag ohne Linie’» jene Ausstellung ergänzt, mit der das Berner Klee-Zentrum 2005 eröffnet wurde. Anders im nahe gelegenen Brühl, wo das Max-Ernst-Museum mit der selbst erarbeiteten Schau «In Augenhöhe: Paul Klee. Frühe Werke im Blick auf Max Ernst» die Begegnung zwischen dem Bauhausmeister und dem zwölf Jahre jüngeren Surrealisten feiert.

Berührung ohne Nähe

«Der gewaltsame Tod», «Herrin und Sklave», «Klumpgeister, Wischgeister u. Lichtgeister, (letztere sehr fragmentarisch)» sind Gespenster, die in Köln schon im Jahr 1912 erschienen, und so erlebt man in Brühl den knapp dreissigjährigen Paul Klee, dessen Einzelausstellungen im Kölner «Gereonsclub» als erste mögliche Begegnung mit Max Ernst angenommen werden. Zur zweiten Station der kunsthistorisch bravourös aufgearbeiteten Begegnung wird der Atelierbesuch von Max Ernst bei Paul Klee im Sommer des Jahres 1919, bei dem er ein Aquarell kauft und eine Mappe Zeichnungen und Aquarelle «in Commission zu Ausstellungszwecken» mitnehmen darf. Der dritte Teil widmet sich dem Verhältnis zwischen Klee und den Surrealisten, wobei es eine Stärke der Ausstellung ist, dass sie eine Berührung nachzeichnet, aus der doch keine Nähe erwuchs.

Mit seiner frühen, distanzierten Begeisterung für Klee spielte Max Ernst unter den Surrealisten den Vorreiter. Klee zu vereinnahmen gelang, bei aller Faszination, nicht. Man war in Paris zu Beginn der zwanziger Jahre verzaubert von der etwas morbiden Handschrift und verzückt von Motiven, die das Malade, Grausige und Verachtete aufgreifen. Notfalls half André Breton dem Surrealen eigenhändig etwas nach und taufte Klees «Zimmerperspektive mit Einwohnern» aus dem Jahr 1912 in einem Katalog in «chambre spirit» um. In diesem Sinn konnte der Kritiker René Crevel den Künstler als «Träumer» bezeichnen, «der aus geheimnisvollen Abgründen einen Schwarm kleiner lyrischer Läuse befreit». Bis Paul Klees Vertrauter Will Grohmann in den «Cahiers d’art» dagegenhielt, dass Klee «durchaus gesund fest auf seinen Beinen steht. Er ist in gar keiner Weise ein Träumer; er ist ein moderner Mensch, der als Professor am Bauhaus lehrt.» Vorauf Breton, wie sich Joan Miró erinnert, Klee mit einem Bann belegt: «Masson und ich haben zusammen Paul Klee entdeckt. Auch Éluard und Crevel interessieren sich für Klee, sie haben ihn sogar besucht. Doch Breton verachtet ihn.»

Einzigartige Gelegenheit

Eine frühe Federzeichnung von 1914 illustriert, warum diese gegenseitige Fremdheit unüberwindbar war: «Der Schlaf» ist ein hingestreckter Körper, eine Abstraktion aus schraffierten schwarzweissen Flächen, die weniger einem Spielfeld für Traumfiguren als einem zerknüllten karierten Tuch gleichen, auf dem keine Dame ihren König schlagen wird. Die Wahl von Max Ernst als Antipode schärft vor allem den Blick für Klee – und so erwächst aus den beiden Ausstellungen eine einzigartige Gelegenheit, Klee als präzisen Kritiker seiner Zeit kennenzulernen. Wen es nach noch mehr Klee verlangt, der kann seine Tempel, Städte und Paläste, mal herbstlich düster, mal sonnenhell strahlend, auch in Saarbrücken besichtigen.

In Köln und Brühl darf die kluge Linie triumphieren, selbst dort, wo fein abgetönte Farbnebel an die Meisterschaft der Gemälde erinnern. «Ein Träumender sieht zurück» von 1939 zeigt die Anstrengung, die es kostet, sich vor den eigenen Nachtgestalten zu behaupten: Dem «Träumenden» sind die Augenlider quadratisch geweitet, lose kreiseln darin die Pupillen, Setzungen, die in leuchtenden Farbkontrasten funkeln, während Gelb und Rosa, sandhelles Beige und Petrol sich an ihnen ausrichten wie Eisenfeilspäne. Die Suche nach den Konturen des Ichs ist ein magnetischer Moment, auf den die Kolorierung mit physikalisch-chemischer Folgerichtigkeit reagiert. Es ist die Moderne, die alle Verhältnisse seziert. In einer Zeit, in der die Wirklichkeit auf Reissbrettern und Labortischen auseinandergenommen wird, vermag keiner die menschliche Skepsis vor den Hallen der Wissenschaft besser einzukreisen als Paul Klee in seinen Zeichnungen.

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